Küsse deuten – Was wir beim Knutschen über uns verraten und wo die Wissenschaft noch forscht
Küssen ist viel mehr als nur ein Symbol der Verbindung. Menschen übermitteln bei einem Kuss geheime Nachrichten – ob der Partner eher leidenschaftlich oder sanftmütig, gesund oder krank, zurückhaltend oder begierig ist. Seit Jahrzehnten streiten Forscher über den Ursprung dieses Phänomens, das uns so vertraut ist wie das Geben und Nehmen von Händen. Was treibt uns dazu, durchschnittlich 100 000 Mal im Laufe unseres Lebens die Lippen eines anderen zu berühren?
Sigmund Freud vermutete im frühen 20. Jahrhundert, dass Saugen an der mütterlichen Brust ein solches Verlangen nach oraler Befriedigung weckt, das wir versuchen, auch bei Küssen zu stillen.
Frauen in der Urzeit haben womöglich den Kuss erfunden
Der britische Zoologe Desmond Morris argumentierte später, dass Mütter den Urkuss erschaffen hätten. Er spekulierte, dass Frauen in der Frühzeit des Menschen ihren Kindern durch vorgekautem Essen Lippen gespitzt hätten – ähnlich wie es heutzutage Schimpansenweibchen tun. Mit der Zeit sei es ihnen dann möglich geworden, ihre Kinder durch Küsse zu beruhigen und ihnen ein Gefühl der Geborgenheit zu vermitteln, aus dem schließlich der partnerschaftliche Kuss als Ausdruck für Leidenschaft und Erotik entstand.
Es ist möglich, dass sich die Situation ganz anders entwickelt hat, so die Bremer Kulturwissenschaftlerin Ingelore Ebberfeld. Viele Tiere begrüßen und betrachten sich beim Partnersucheing schnüffelnd am Hintern der Artgenossen, aber als unsere Vorfahren sich aufgerichtet und angefangen haben, auf zwei Beinen zu laufen, wurde es schwierig, dieses Ritual auszuführen. Die Forscherin vermutet, dass die Geste durch den aufrechten Gang vom Gesäß zum Gesicht verlagert wurde.
Es ist unbestritten, dass sobald sich zwei Paare von Lippen treffen, ein bemerkenswerter Prozess in Gang gesetzt wird. In nur wenigen Sekundenenden schicken Milliarden von Nervenzellen Informationen an das Gehirn und den Körper darüber, wie der fremde Mund schmeckt, riecht, ob er warm, kalt, glatt, rau, fest oder weich ist. Fünf von insgesamt zwölf Hirnnerven werden dabei aktiviert.
Küsse schicken Tausende Nervenzellen Signale an unser Gehirn
Das neuronale Signalfeuer aktiviert nicht nur ein bewusstes, sinnliches Erlebnis in unserem Kopf, sondern schickt auch Befehle an unser limbisches System, ein Teil des Gehirns, der auf unbewusster Ebene agiert.
Dort produzieren Drüsenzellen eine Mischung aus körpereigenen Drogen, die in unsere Blutbahn abgegeben werden, was zur Erzeugung zusätzlicher Botenstoffe führt, wie Endorphine und Hormone, wie zum Beispiel Oxytocin, welche Stress reduzieren, das soziale Verbindungsgefühl steigern und uns sexuell erregen.
Neben der Zunge sind etwa 30 Gesichtsmuskeln an einem Kuss beteiligt. So viel lustbringendes Training wie beim Küssen gibt’s sonst nie für diese Muskelgruppen. Werden die Gesichtsmuskeln trainiert, schafft das neben einer besseren Durchblutung einen straffen und frischen Look.
Die Küssenden werden intimer, streicheln sich. Über das Rückenmark werden die Berührungen an den Händen, am Rücken oder am Hals registriert und ans Nervensystem weitergeleitet. Sofort beauftragt der Hirnstamm Muskeln in den Arterienwänden, sich zu entspannen: Die Durchblutung steigt, unser Gesicht errötet.
Hirnregionen für depressive Stimmungen werden deaktiviert. Wir atmen flacher, unser Herz schlägt schneller. Der Körper heizt sich auf – und wird sogleich wieder abgekühlt: Schweißdrüsen sondern winzige Tropfen ab, die sexuelle Duftstoffe freisetzen. Die Nebennieren-rinden bilden Adrenalin und putschen den Körper damit auf. Mitunter zittern die Knie, oder wir bekommen Gänsehaut. Insgesamt bewegt ein Mensch beim Küssen mehr als 30 Muskeln.
Steigt die Erregung über ein bestimmtes Maß hinaus, produzieren Hoden und Eierstöcke das Lusthormon Testosteron: Penis und Klitoris erigieren, die Vaginalwände und die äußeren Schamlippen schwellen an. Die besondere Lippen- und Zungenfertigkeit, die der Homo sapiens im Lauf seiner Entwicklungsgeschichte erworben hat, vermag ihn also in einen rauschhaften Zustand zu versetzen. Nicht zufällig sind die Lippen der Körperbereich mit der dünnsten Haut und der wohl höchsten Dichte sensorischer, also Sinneseindrücke verarbeitender Nervenzellen.
Kussdeutung – Beim Küssen erschnüffeln Partner die Pheromone des anderen
Platon lehrte einst, dass durch einen Kuss die Seele auf die Lippen geschickt wird, um den Körper zu verlassen. Dieser Gedanke wird durch neueste Erkenntnisse aus der Wissenschaft von Küssen, Philematologie, untermauert.
Wenn ein Paar sich küsst, geben sie mehr preis, als ihnen bewusst ist. Jeder Mensch hat sein einzigartiges Geruchsprofil, welches wichtige Informationen über ihr Immunsystem enthält. Bei dieser Annäherung nehmen sie beide auch die Duftstoffe des anderen auf eine intensive Weise wahr, daher werden viele Pheromone an den Nasenflügeln produziert und abgegeben.
Noch vor dem 20. Jahrhundert war der sogenannte Schnüffelkuss – bei dem sich die Nasen aneinander reiben – beliebter als der Kuss auf den Mund. Dieser historische Kuss ist wohl aus heutiger Sicht eher als eine Art des „Beschnupperns“ zu deuten.
Um bereits winzige Mengen eines Duftprofils wahrzunehmen und auszuwerten, besitzen viele Tiere – darunter Katzen, Hunde, Hirsche – einen Pheromon-Detektor: das Vomeronasal-Organ. Es verbirgt sich oberhalb des Gaumens, zwischen Mund und Nase. Noch aber streiten Anatomen, ob auch der erwachsene Mensch über eine derartige Empfangsstation verfügt.
Der Kuss eine Art weiblicher Tauglichkeitstest?
Ergebnisse aus Forschungen deuten darauf hin, dass wir beim Küssen mehr wahrnehmen als nur die Berührung von Lippen oder Zunge. Gordon G. Gallup von der State University of New York in Albany führte 2007 eine Studie mit 180 Personen durch, bei der mehr als die Hälfte der Männer und fast zwei Drittel der Frauen berichteten, dass sie sich von einem anderen Menschen angezogen fühlten und diesen anschließend küssten, wodurch jegliches Interesse verschwand.
In einer anderen Befragung behaupteten die meisten Frauen sogar, sie könnten an einem Kuss erkennen, ob sich ein Verehrer langfristig als Partner eigne. Offenbar vermögen besonders Frauen unbewusst zu erreichen, ob ein Mann zu ihnen passt. Ist der Kuss demnach eine Art weiblicher Kompatibilitätstest? Ein erstes Vorkosten und Beschnuppern?
Es würde biologisch betrachtet einen Sinn machen: Frauen tragen die Belastung der Schwangerschaft und das Risiko der Geburt. Bei der Auswahl eines Partners sollten sie sicher sein, dass er ihnen bei der Betreuung der Kinder hilft – laut der US-Anthropologin Helen Fisher, wird eine Frau nicht nur herausfinden, ob der Mann nett ist, wenn sie ihn küsst, sondern auch, ob er ein guter Vater wäre.
Küssen ist, gesund: Wer viel küsst, lebt länger
Es ist kein Wunder, dass Frauen Küsse anders bewerten als Männer: Frauen suchen den Lippenkontakt, um die emotionale Bindung zu vertiefen und ihr Gefühlsleben miteinander zu synchronisieren. Männer hingegen betrachten Küsse eher als ein Mittel, um ihr konkretes Ziel – den Orgasmus – zu erreichen. Sie bevorzugen es, nasse Küsse mit offenem Mund auszutauschen.
Ein Zungenkuss ist für sie der Auftakt zu intimer Zweisamkeit, eine Zwischenstation zum Sex.
Männer lieben wohl auch deshalb feuchtere Küsse, weil ihr Speichel Testosteron enthält. Gelangt das Hormon in den Mund einer Frau, passiert es deren Schleimhäute, verteilt sich im Blut und versetzt die Partnerin womöglich in lustvolle Stimmung.
Darüber hinaus ist Küssen gesund – das Immunsystem wird angeregt, der Abbau des Hormons Cortisol vermindert Stress. Und Forscher haben herausgefunden: Menschen, die viel küssen, leben länger.
Und natürlich macht Küssen auch einfach Spaß und bringt uns Menschen einander näher. Küssen ist eine der schönsten Sachen, die wir tun können. Es ist etwas Intimes und doch auch fremdes, was uns verbindet und näher zusammenbringt. Küssen berührt unsere Seele und unseren Geist auf eine tiefe Ebene. Doch warum machen wir Menschen das überhaupt?
Warum gibt es dieses Bedürfnis nach Nähe und Geborgenheit? Wissenschaftler haben herausgefunden, dass Küssen viele positive Auswirkungen hat – sowohl für den Körper als auch für den Geist. Denn beim Küssen werden Glückshormone wie Oxytocin oder Serotonin freigesetzt, die uns entspannter und glücklicher machen. Außerdem stärken sie unser Immunsystem und helfen so gegen Krankheit. Intensive Küsse überschütten uns mit Glücksgefühlen und sind ein Wegbereiter für die Liebe.